Sesam, öffne dich!
… oder das 2. Zigarrenkisten-Projekt
Mein Thema sind diesmal Unfälle und was sie bewirken. Philosophisch gefragt: Hat ein Unfall wirklich NUR negative Aspekte? Lernen wir wirklich erst SPÄTER etwas daraus? Sind die Veränderungen zu integrieren? Worauf lasse ich mich ein? Lasse ich mich überhaupt auf etwas ein? Wie verändert ein Unfall meinen Blick auf das große Ganze und auf die anderen?
Künstlerisch betrachtet: Schon Bob Ross erfreute sich an »many happy little accidents«. Ein Klecks an der »falschen« Stelle kann ein Bild ganz wunderbar verändern. Ladet den Zufall ein, seid offen und spielt mit. Ihr werdet euch wundern, wie sehr das bereichern kann. Immer wieder.
Die Dadaisten zerlegen Texte in einzelne Worte oder Laute und setzen diese dann willkürlich wieder zusammen. Wunderbares entsteht wie von Zauberhand. Oder auch völliger Mist, was soll’s: weitermachen.
Sich von Unfällen und Zufällen leiten zu lassen befreit mich von vermeindlichen Ansprüchen der Gesellschaft und dem von mir sonst immer angestrebten Perfektionismus. Ich trete einen Schritt zurück und lasse etwas zu. Nicht immer alles im Griff haben zu wollen empfinde ich als sehr wohltuend.
Meine Projekt sollte vor allem BLAU sein, eine Farbe voller Symbolkraft. Blau wie das Wasser, was die ganze Erde verbindet und nährt. Ohne Wasser kein Leben. Blau wie die Luft, der Himmel, der blaue Planet, die blaue Stunde, blaue Augen und blaue Flecken, blau machen oder blau sein … feeling blue. Dazu als Kontrast und Ergänzung kleine goldene Details. Gold für Reichtum, Fülle, Glamour, Werte, goldene Herzen oder goldene Hände, den goldenen Schnitt, die goldene Mitte. Gold für Dekadenz und »mehr Schein als Sein«. Gold für Schönheit oder Unterdrückung. Blutgold, flüssiges Gold, schwarzes Gold, Hüftgold. Wann ist denn etwas »goldrichtig«?
Da ich gerade im Kalligrafie-Kurs von Gaby Fanslau in Lüneburg die Unziale lerne, habe ich sie in meinem Leporello exzessiv »benutzt«. Der Titel ist Unziale-Unfälle. Die Schrift ist teilweise krumm und schief, schnell und langsam geschrieben, zerrissen, positiv-negativ, gebrochen, geknickt und wieder neu zusammengesetzt. Es gibt Kleckse, Wischer und Schreibfehler, Verlaufenes, Abdrücke und Gematsche.
Das Leporello besteht aus verschiedenen Papieren und Resten, Packpapier, Aquarellpapier, Tonpapier, Tapete, Stoff, Flächenvorhang, Spielkarten (die abgenudelten Loriotkarten aus meiner Doko-Runde), Seekarten, Buchseiten. Kaputtes und altes wird recycelt/upcycelt und bekommt eine neue/andere Bestimmung. Unfälle führen zu Veränderungen. Alles ist zusammengeklebt und genäht, gerissen, gelocht, zerschnitten, gefaltet, gestaucht.
Die Texte sind genauso wild zusammengesetzt, da trifft Matthias Claudius‘ Abendlied aus den 1770ern unmittelbar auf eine Spam-Mail von 2015 ein Haiku und Wortfetzen aus meinem gehirnerschütterten Gehirn. Let it flow.
Und weil ich das so oft gefragt werde: es ging alles sehr schnell, denn je mehr man übt umso leichter geht es einem von der Hand. Die Hauptarbeit hab ich an einem Wochenende im Januar vollbracht, an dem ich verordnet bekam NICHTS zu tun. Bitteschön – so sieht mein Nichts aus :-)
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